Blog

29
Okt

BVerfG: Der Entzug der elterlichen Sorge zur Sicherung des Kinderwohls muss verhältnismäßig sein

BVerfG: Der Entzug der elterlichen Sorge zur Sicherung des Kinderwohls muss verhältnismäßig sein

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 08.03.2012 entschieden, dass die Entziehung der elterlichen Sorge nur unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit angeordnet werden darf.

Das Gericht hat bei der Auswahl der zur Sicherung des Kindeswohls angeordneten Maßnahmen das mildeste Mittel zu wählen.

1. Sachverhalt

Die Beschwerdeführer wenden sich im Wege der einstweiligen Anordnung gegen den Entzug der elterlichen Sorge für ihren dreijährigen Sohn.

Der Kindesvater meldete sich 2011 beim sozialen Dienst und ersuchte um Hilfe bei der Erziehung. Er teilte mit, er bemerke psychische Auffälligkeiten bei seiner Frau, die seit der Geburt des Sohnes bestünden.

Das zuständige Jugendamt schaltete sich ein und mit Einverständnis der Kindeseltern wurde das Kind einige Tage bei den Großeltern väterlicher Seits untergebracht.

Bei dem Kind wurden Entwicklungsverzögerungen um ca. 1 Jahr festgestellt, deswegen erfolgte eine Frühförderung des Kindes.

Diese Frühförderung endete am 05. Juli 2011.

Seit August 2011 besuchte das Kind einen heilpädagogischen Kindergarten.

Die Eltern brachen im selben Monat eine für rund dreieinhalb Monate durchgeführte stattliche Familienhilfe ab.

Daraufhin ersuchte das Jugendamt sodann das Familiengericht und bat um Überprüfung einer Kindeswohlgefährdung.

Am 24.11.2011 wurde den Beschwerdeführern vom Amtsgericht Osnabrück das Sorgerecht im Wege der einstweiligen Anordnung entzogen und auf das Jugendamt als Vormund übertragen.

Das Gericht berücksichtigte den Sorgerechtsentzug damit, dass nach dem Inhalt der mündlichen Verhandlung für das Kind eine erhebliche Kindeswohlgefährdung bestehe. Es sei nicht sichergestellt, dass das Kind bei Erkrankungen, die erhebliche Auswirkungen und Spätfolgen haben könnten, einem behandelnden Arzt vorgestellt werde. Zum einen habe das Kind im zweiten Lebensjahr eine Schädelfraktur erlitten, deren Herkunft die Eltern nicht hätten erläutern können. Zum anderen seien zwischen den im Säuglings- bzw. Kindesalter herkömmlich erfolgten Untersuchungen U6 und U7 drastische Rückschritte in der motorischen und sprachlichen Entwicklung aufgetreten.

Bei dem Kind sei eine erhebliche emotionale Vernachlässigung festgestellt worden.

Da die Eltern nicht bereit seien, ambulante Hilfestellungen des Jugendamts zu akzeptieren, war eine Herausnahme des Kindes nach § 1666 BGB erforderlich.

Hiergegen legten die Beschwerdeführer Beschwerde beim OLG ein.

Die Beschwerde wurde zum größten Teil damit begründet, dass die Großmutter väterlicher Seits im selben Stadtteil wie die Kindeseltern lebe und das Kind von Geburt an kenne. Das Kind könne folglich auch zur Großmutter gebracht werden und dort betreut werden. Das Kind habe eine sehr enge Beziehung zu ihr.

Die Großmutter sei 70 Jahre alt, in guter körperlicher Verfassung und stehe als Betreuungsperson zur Verfügung.

Die Beschwerde wurde mit Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom

23. Dezember 2011 als unbegründet zurück gewiesen.

Das OLG begründet diese Entscheidung dahin gehend, dass der Entzug der elterlichen Sorge im Wege der einstweiligen Anordnung unerlässlich gewesen sei.

Bei dem Kind seien gravierende Entwicklungsdefizite festgestellt worden.

Aufgrund der Schilderungen der als Zeugen vernommenen Familienhelfer sei davon auszugehen, dass die Ursuche für die Entwicklungsdefizite hier in der mangelnden Erziehungsfähigkeit der Eltern zu sehen sei.

Im Wesentlichen hat das OLG die Begründung des Amtsgerichts bestätigt und den Hinweis auf die Großmutter damit abgelehnt, dass diese nicht ausdrücklich als Vormund benannt worden sei.

Mit der am 27. Januar 2012 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung ihres Grundrechtes aus Art. 6 Absatz 2 Satz 1 GG.

Die mit der Sache befassten Fachgerichte hätten einseitig den Tatsachenvortrag des Jugendamtes übernommen, ohne diese Angaben auf die Richtigkeit zu überprüfen. Auch sei die angenommene Erziehungungeeignetkeit der Eltern nicht durch ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten bestätigt worden.

Die Gerichte hätten auch bei Anwendung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes nicht berücksichtigt, dass nahe Angehörige oder sonstige Bezugspersonen bei einer Vormundsauswahl hätten berücksichtigt werden müssen.

In der Beschwerdebegründung sei die Großmutter väterlicher Seits als Zeugin benannt worden. Diese hätte als Betreuungsperson zur Verfügung gestanden und folglich wäre dies auch das mildere Mittel gewesen.

Die Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

2. Rechtlicher Hintergrund

§ 1666 BGB erlaubt Eingriffe in die elterliche Sorge, wenn das Kindeswohl gefährdet ist und die Eltern in Ihrer Schutzfunktion ausfallen.

Ein Entzug der elterlichen Sorge ist der stärkste Eingriff in das von Art. 6 GG geschützte Elternrecht und bedarf einer klaren Prüfung, ob es keine milderen Mittel gibt, das Wohl des Kindes zu gewährleisten.

Nur wenn feststeht, dass keine anderen Mittel zur Verfügung stehen, darf das Familiengericht den Eltern gemäß § 1666 BGB die elterliche Sorge entziehen.

3. Beschluss des BVerfG vom 08.03.2012 (- 1BvR 206/12 – )

Das Bundesverfassungsgericht hat den Beschluss des OLG Oldenburg aufgehoben und die Sache zurück verwiesen.

Der Beschluss verletze die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes.

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes garantiere den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung Ihrer Kinder.

Die Erziehung der Kinder liege damit primär in der Verantwortung der Eltern. Begrenzt wird dieses Recht durch das Kindeswohl. Die Trennung des Kindes von seinen Eltern als dem stärksten Eingriff in das Elternrecht ist nur unter den eng Vorraussetzungen des Art. 6 Abs. 3 Grundgesetz zulässig.

Nur wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen, sei ein Entzug der elterlichen Sorge gerechtfertigt. Das elterliche Fehlverhalten müsse dabei ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet sei.

Die Trennung des Kindes von seinen Eltern dürfe nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen.

Hierzu führt der Senat aus:

„Wenn Eltern das Sorgerecht für Ihre Kinder entzogen und damit zugleich die Aufrechterhaltung der Trennung der Kinder von Ihnen gesichert werden soll, darf dies zudem nur strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Dieser gebietet es, dass Art und Ausmaß des stattlichen Eingriffs sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist.

Der Staat muss daher nach Möglichkeit versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhalten der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahme sein Ziel zu erreichen.

Die angegriffenen Entscheidungen lassen allerdings hinsichtlich der Auswahl der angeordneten Maßnahmen eine hinreichende Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vermissen.

Die Fachgerichte haben von ihrem nach § 1779 Abs. 2 BGB eingeräumten Auswahlermessen nur unzureichenden Gebrauch gemacht und damit den Verhältnis-mäßigkeitsgrundsatz verletzt.

Es ist nicht hinreichend dargelegt, dass die konkret getroffenen Anordnungen zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich sind.

Erforderlich ist eine Maßnahme dann, wenn von den zur Erreichung des Zweckes gleichgut geeigneten Mitteln das mildeste, also die geschützte Rechtsposition am wenigsten beeinträchtigenden Mittel gewählt wird.

Die Gerichte mussten sich insoweit damit auseinander setzen, ob mildere Mittel zu Verfügung standen, die ebenso geeignet gewesen wären, die festgestellte Gefährdung von dem Kind abzuwenden.

Als mildere Maßnahme wäre insbesondere die Anordnung der Vormundschaft der Großmutter väterlicher Seits in Betracht zu ziehen gewesen.“

Das Bundesverfassungsgericht hat zustimmend zu den Fachgerichten eine Kindeswohlgefährdung im Hinblick auf die allgemeinen Entwicklungsverzögerungen des Kindes festgestellt. Auch hat das Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet, dass die Ursache in der mangelnden Erziehungsfähigkeit der Eltern liegt.

Dass die Gerichte die einstweilige Anordnung ohne vorherige Einholung eines Sachverständigengutachters getroffen haben, wurde gebilligt.

Durch die persönliche Anhörung des Kindes, der Eltern, der Verfahrensbeiständin sowie des Jugendamts und der Familienhilfe sei eine hinreichend zuverlässige Entscheidungsgrundlage geschaffen.

Das Bundesverfassungsgericht hat aber allein beanstandet, dass nicht die Maßnahme gewählt wurde, die die geschützte Rechtsposition am wenigsten beeinträchtigt.

Als solche wäre hier die Anordnung der Vormundschaft der Großmutter in Betracht zu ziehen gewesen.

Nur wenn Elternwille und Kindesbindung gegen eine solche Vormundschaft sprechen, seien nahe Verwandte oder Verschwägerte nicht zu berücksichtigen.

Ansonsten solle das Familiengericht unter mehreren Familienangehörigen nach pflichtgemäßen Messem auswählen. Würde nicht hinreichend geprüft, welche geeigneten Familienangehörigen vorhanden sind, so beeinträchtige dies die geschützten Grundrechte der Betroffenen. Vorliegend hätte es hier wegen der benannten Verwandten besonders sorgfältiger Erwägung und Ausführung zur Auswahl des Vormundes bedurft.

Der Senat führt aus, dass in der Beschwerdeschrift an das OLG der Elternwille klar zum Ausdruck kam, dass im Falle der Entziehung der elterlichen Sorge einem Verwandten die Vormundschaft erteilt werden sollte.

Die Großmutter sei zwar nicht als Vormund ausdrücklich benannt worden, jedoch hätte Sie gemäß § 1779 Abs. 3 BGB angehört werden müssen.

Die Fachgerichte hätten überprüfen müssen, ob die Unterbringung des Kindes bei einem Verwandten das mildere Mittel gewesen wäre.

Hierzu führt der Senat aus:

„Soweit Elternwille oder Kindesbindung nicht bereits eindeutig die Auswahl eines bestimmten Vormundes verlangen, hat das Familiengericht Verwandte oder Verschwägerte des Mündels zu ermitteln.

Das Gericht wählt unter der den geeigneten Familienangehörigen nach pflichtgemäßem Ermessen aus. Eine unzureichende Prüfung, welche geeigneten Familienangehörigen vorhanden sind, beeinträchtigt die mit der gesetzlichen Auswahlvorschrift geschützten Grundrechte der Betroffenen.

Der ohnehin gravierende Eingriff in das Elternrecht durch die Entziehung des Sorgerechts und Trennung des Kindes von den Eltern hätte hier möglicherweise durch eine Unterbringung des Kindes bei Verwandten, zu denen nicht nur das Kind,  sondern auch die Eltern regelmäßig eine engere Bindung als zu fremden Personen haben, abgemildert werden können.

Umgangskontakte der Eltern mit dem Kind, die vorliegend grundsätzlich nicht als schädlich angesehen wurden, hätten dadurch möglicherweise erleichtert und gefördert werden können.

Dies galt es insbesondere vor dem Hintergrund zu berücksichtigen, dass es sich lediglich um eine vorläufige Maßnahme handelte und eine Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt nicht von vorne herein ausgeschlossen werden darf.

Aus des angegriffenen Entscheidungen ist jedoch nicht erkennbar, dass diesbezügliche Erwägungen angestellt wurden.“

4.Fazit

Das Bundesverfassungsgericht vertritt folglich die Auffassung, dass vor Entzug der elterlichen Sorge als stärkster Eingriff in das Elternrecht auch Verwandte oder nahe Angehörige als Vormund in Betracht kommen können.

Unterbleibt eine solche Prüfung, stellt dies eine Verletzung in die Grundrechte der Eltern dar.

Dieser Auffassung kann meines Erachtens nur gefolgt werden.

In der Praxis wird sehr häufig bei Entziehung des Sorgerechts wegen Kindeswohlgefährdung das Jugendamt zum Vormund bestimmt.

Warum die Suche nach geeigneten Verwandten unterbleibt, kann diesseits nicht nachvollzogen werden.

Bei der Prüfung, ob den Eltern gemäß § 1666 BGB die elterliche Sorge entzogen werden soll, muss folglich also vom Gericht überprüft werden, ob nicht nahe Verwandte die Betreuung des Kindes übernehmen können.

Hierauf sind die Gerichte hinzuweisen.

Anders ist die Situation bei Eilbedürftigkeit zu beurteilen. Hier kann gerechtfertigt sein, vorläufig das Jugendamt als Vormund zu bestellen.

Das Kindeswohl steht nach wie vor an erster Stelle.

Ermittlungen nach möglichen Betreuungspersonen im Verwandtenkreis haben hier zurück zu stehen.

Im Hauptsachverfahren dürfte im Bedarf von Amts wegen die Entscheidung zu korrigieren sein.

Ich halte die Entscheidung für richtungweisend, da in der Regel das Jugendamt als Vormund eingesetzt wird. Eine Prüfung, ob nahe Verwandte auch als Betreuungsperson in Frage kommen, wird grundsätzlich nicht durchgeführt.

5. Quelle

Den Beschluss können Sie sich unter der Seite www.bundesverfassungsgericht.de unter der Rubrik Entscheidungen und der Eingabe des Aktenzeichens 1 BvR 206/12 einsehen.

Bei diesen Fragen stehe ich Ihnen gern zu einem Beratungstermin zur Verfügung und geben Ihnen die bestmögliche Unterstützung.

Mit freundlichen Grüßen

Melanie Haas
Fachanwältin für Familienrecht und Mediatorin
Ostheimer Str. 28
51103 Köln
Telefon: 0221/27225573
www.melanie-haas.de


Comments are closed.